Montag, 15. November 2021

Schulen brechen in die Zukunft auf - Start mit Kongress in Mainz

Mehr selbstbestimmtes Lernen. Und viel individueller Beistand. Raus aus der Enge der Klassenräume. Rheinland-Pfalz entwickelt ein Programm für die Schule der Zukunft. Am 12. November geht es los mit einem Kongress.

Die Pandemie hat die Schulen zu neuen Arbeitsweisen gezwungen. Jetzt sollen sie sich aus freien Stücken auf einen Weg der Veränderung begeben. Den allgemeinen Wegweiser hat der Koalitionsvertrag vorgegeben. Und Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) kündigte in ihrer Regierungserklärung einen «Zukunftsfonds Schule» mit Mitteln von zehn Millionen Euro im Jahr an. Ein halbes Jahr später nimmt das Vorhaben erste konkrete Gestalt an.

«Zum Auftakt bereiten wir für den 12. November einen Zukunftskongress in Mainz vor», sagt Bildungsministerin Stefanie Hubig im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. «Dann werden wir darüber beraten, in welche Richtungen die Schule der Zukunft entwickelt werden soll.» Dieser breit angelegte Beteiligungsprozess wird zusammen mit dem Landeselternbeirat und der Landesvertretung der Schülerinnen und Schüler auf den Weg gebracht. Die gesamte Schulgemeinschaft wird eingebunden.

«Im nächsten Schritt entwickeln wir die dafür geeigneten Formate der Zusammenarbeit», erklärt Hubig das weitere Vorgehen. «Das kann ein Runder Tisch sein, das können Arbeitsgruppen zu einzelnen Themen sein.»

Jeder Aufbruch fängt mit einer Bestandsaufnahme an. Die Schullandschaft in Deutschland zeige noch viel 20. Jahrhundert, aber nicht unbedingt die Schule, wie sie 2030 oder 2050 gebraucht werde, sagt die Bildungsministerin. «Wir fragen uns: Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten brauchen Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert? Das sind andere als im 19. oder 20. Jahrhundert.» Die Schulen seien früher die zentrale Säule der Wissensvermittlung gewesen, aber dies habe sich verändert. Heute gebe es viele weitere Wege der Wissensvermittlung, die miteinander vernetzt werden sollten.

Bei der Digitalisierung soll künftig nicht mehr so sehr die technische Ausstattung im Vordergrund stehen. «Wir müssen die digitalen Mittel nutzen, um individuelle Förderung besser zu gestalten», sagt Hubig und nennt adaptive Lernprogramme, intelligente Lernsoftware, Blended Learning als Verbindung von Lernen in der Schule und zu Hause sowie die Möglichkeiten der Virtual Reality: «Schülerinnen und Schüler können damit andere Lernorte aufsuchen oder etwa im Biologieunterricht den Körper von innen anschauen.»

Tradition und Beständigkeit sollen in den Schulen weiter ihre Berechtigung haben. «Aber die Kompetenzen, die heute benötigt werden, sind andere als noch vor 20 Jahren: Es geht heute auch um Kreativität, kritisches Denken, Zusammenarbeit oder Kommunikationsfähigkeit.»

Stundenplan und Noten sind kein Selbstzweck. «In der Schule der Zukunft geht es auch darum, Lehr- und Lernzeiten zu flexibilisieren und von den Stundentafeln ein Stück weit abzurücken», sagt die Ministerin. «Den Bildungsstandards bleiben wir verpflichtet, aber in ihrem Rahmen soll es mehr Freiheiten für neue Lernprozesse geben. Wir erkunden gezielt Wege zum selbstbestimmten Lernen.» Dazu könne auch eine Auflösung der klassischen Stundenpläne gehören und ihre Weiterentwicklung zu Arbeitsfenstern. «Die Lehrkräfte stehen dann vielleicht nicht mehr vor einer Klasse, sondern den Schülerinnen und Schülern in verschiedenen Räumen zu unterschiedlichen Fragen mit ihren jeweiligen Kompetenzen zur Seite.» Auch bauliche Veränderungen sollen für die Schule der Zukunft entwickelt werden.

Die Landesvertretung der Schülerinnen und Schüler kritisiert schon länger, dass viele unter einer hohen Frequenz von benoteten Klassenarbeiten leiden. Auch die Ministerin räumt ein: «Es ist klar, dass Leistungs- und Notendruck für manche nicht der richtige Weg sind, um ihre Fähigkeiten zu entfalten.» Zwar gebe es auch Kinder und Jugendliche, die sich gerne aneinander messen wollten. Aber «Lernen soll Teil des Lebens sein, Lebensfreude ist auch Freude am Lernen.»

Und Hubig fügt hinzu: «Eine Idealvorstellung wäre es, die Grenzen zwischen Schule und sonstigem Leben aufzulösen.» Dann müssten Kinder und Jugendliche nicht mehr das Gefühl haben, ihre Aufgaben nur für die Schule machen zu müssen. «Stattdessen sollte Lernen eine Chance sein, wie sich junge Menschen die Welt erschließen und sich möglichst viele Türen öffnen.»

Wenn es um neue Gestaltung geht, sind Ideale als Orientierung nötig, um eine klare Richtung vor Augen zu haben. Bei der Umsetzung in die tägliche pädagogische Arbeit will das Pädagogische Landesinstitut den Lehrerinnen und Lehrern zur Seite stehen. Dessen Direktorin Birgit Pikowsky erwartet, «dass die Heterogenität von Schülerinnen und Schülern, die jetzt schon groß ist, noch weiter zunehmen wird». Da könnten Kinder nicht im Gleichtakt lernen - die einen seien unterfordert, andere überfordert. «Wir brauchen beides: individualisiertes und gemeinsames Lernen.»

Nach den Überlegungen beim Zukunftskongress und in anschließenden Runden soll zügig die Umsetzung beginnen. «Sobald die ersten Maßnahmen aufgestellt sind, können sich alle Schulen bewerben, sich in einem Pilotprojekt auf diesen Weg zu begeben und begleitet zu werden», sagt Hubig. Geplant sind im ersten Schritt bis zu 100 Pilotschulen, die für die Umsetzung von einzelnen Maßnahmen Mittel aus dem Fonds «Schule der Zukunft» erhalten.

Die anderen rund 1500 Schulen in Rheinland-Pfalz dürften dann aber «nicht das Gefühl bekommen, jetzt Vergangenheitsschulen zu sein», sagt Pikowsky. «Alle Schulen sind Zukunftsschulen.» Lernen entstehe immer wieder neu in der Begegnung mit dem Lernstoff und mit anderen Menschen. «Wenn einzelne Schulen in diesem Prozess bestimmte neue Erfahrungen sammeln, sollen andere rege daran teilnehmen und auch übernehmen, was sich als gut herausstellt.»