Dienstag, 07. Mai 2019

Schreiben nach Gehör – warum eine Lehrmethode verboten wird

Jahrelang lernten Kinder in deutschen Grundschulen, nach Gehör zu schreiben. Damit ist jetzt Schluss: Lernzentren bringen die Methode in Zusammenhang mit einem Anstieg der LRS-Diagnosen.

Alle Wege führen nach Rom und viele Wege zur Schreibfähigkeit

Es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten, Kindern die Schriftsprache nahezubringen. Jahrelang wurde Schreiben mit der Fibel unterrichtet: Die Lehrperson führte einzelne Buchstaben und Wörter schrittweise aufeinander aufbauend und nach festen Vorgaben ein, gelernt wurde mit der Fibel. Daher die Bezeichnung Fibel-Methode. Allerdings geriet diese konservative Methode irgendwann in die Kritik: Zu langsam, wenig motivierend sei sie, würde Kinder in ihrem Lerneifer ausbremsen und frustrieren.

Eine andere Methode wurde als "Lesen durch Schreiben" oder "Schreiben nach Gehör" bezeichnet. Die Methode geht davon aus, dass sich Kinder die Schriftsprache in großen Teilen selbst erarbeiten können. Eine Anlauttabelle zeigt zu jedem Buchstaben des Alphabets ein kleines Bild, die Bilder sind alphabetisch geordnet. Aus Bilderfolgen wie Ameise – Pferd – Fuß – Elefant – Lampe können sich die Kinder dann das Wort A – P – F – E – L zusammensetzen und lernen so, ihre Texte selbst zu schreiben. Denn was über Bilder für ein Wort funktioniert, geht auch umgekehrt. Allerdings ist die Methode umstritten, denn deutsche Kinder scheinen in letzter Zeit immer mehr Schwierigkeiten zu haben, korrekt zu schreiben. Heinz-Peter Leidinger (Präsident des Deutschen Lehrerverbands) mahnte dementsprechend, dass es problematisch sein könnte, wenn Grundschulen ausschließlich oder vorwiegend nach dieser Methode unterrichten würden.

Streit unter Pädagogen

Indirekt unterstellte Herr Meidinger damit vielen Grundschullehrern und -lehrerinnen, schlechte Arbeit zu leisten. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek empfahl nach Bekanntwerden einer Studie, die "Lesen durch Schreiben" mit schlechter Rechtschreibung in Verbindung brachte, diese Methode generell zu überdenken. Was wiederum für Aufregung seitens der Lehrerverbände sorgte. Denn in den meisten Bundesländern steht es den Grundschullehrkräften frei, mit welcher Methode sie arbeiten. Sie müssen lediglich die Lehrpläne einhalten, die Schüler und Schülerinnen also zum Ziel bringen.

Durch diese Freiheit wurden in den letzten Jahrzehnten beide Methoden entweder exklusiv oder in Mischformen eingesetzt, abhängig von den einzelnen Lehrkräften und ihren Präferenzen. So werden teilweise Rechtschreibfehler in den Texten der motivierten Erstklässler angestrichen, die Schüler und Schülerinnen zu Korrekturen anhalten. In anderen Schulen passiert das nicht, wieder andere Schulen lassen die Kinder nur Texte mit Wörtern verfassen, die die Kinder bereits durch Abschreiben auswendig gelernt haben. Und andere Lehrkräfte erklären die Rechtschreibregeln und lassen die Schüler und Schülerinnen danach arbeiten, sowie sie anfangen, selbständig Texte zu schreiben. Das ist bei der Arbeit nach "Schreiben nach Gehör" normalerweise sehr viel früher als der Lehrplan vorsieht.

Studie steht kleineren Enthebungen entgegen

Die Studie in Frage wurde mit 3.000 Kindern in Nordrhein-Westfalen durchgeführt, die nach ganz unterschiedlichen Methoden Schreiben lernten. Und die Studie ist bislang nicht vollständig veröffentlicht. Es ist also gar nicht klar, ob die Lehrkräfte der studierten Kinder überhaupt nicht korrigierten oder hin und wieder die Rechtschreibung korrigierten. Bislang ist nicht einmal die Methode "Lesen durch Schreiben" beziehungsweise "Schreiben nach Gehör" genau definiert, sodass die geschilderten Mischformen ebenfalls darunter fallen würden.

Der Studie entgegen stehen Erhebungen, die immer mal wieder unter den Schulen einzelner Städte, unter verschiedenen Jahrgangsstufen etc. durchgeführt werden. Diese Erhebungen bringen nämlich gar kein eindeutiges Ergebnis hervor. Selbst wenn die soziale Herkunft der untersuchten Kinder einbezogen wird, bildungsnahe und bildungsferne Elternhäuser berücksichtigt werden und die sogenannten "Brennpunktschulen" herausgerechnet werden, ist nicht klar, ob die Methode "Lesen durch Schreiben" wirklich rechtschreibschwache Schüler und Schülerinnen generiert. Wenn das so wäre, wäre das ein sehr brisantes Ergebnis.

Hängen Rechtschreibfertigkeiten nur von der Methode ab?

Bildungswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen sind überzeugt, dass die Methode alleine nicht dafür verantwortlich ist, wie gut oder schlecht Kinder sich die Rechtschreibregeln aneignen. Auch das Verhalten der Lehrpersonen gegenüber den Kindern, das Umfeld, das Klassenklima und der Hintergrund der Kinder spielen eine Rolle. Und da wird dann auch klar, warum die verschiedenen Methoden eben doch ihre Berechtigung haben: Leistungsstärkere Kinder profitieren von einem offenen Unterricht wie bei der Methode "Lesen durch Schreiben" sehr stark. Bei leistungsschwachen Schülern und Schülerinnen ist allerdings das Gegenteil der Fall, sie können mit der Fibel-Methode besser lernen. Was tut man aber bei Klassenstärken von 20 und mehr Kindern, die alle einen anderen Hintergrund haben, aus unterschiedlichen Elternhäusern kommen und unterschiedlich motiviert sind? Es gibt keine Methode, alle gleichermaßen profitieren zu lassen.

Heterogene Klassen machen das Unterrichten nach reinen Methoden schwer

In den Regelklassen der Grundschulen sitzen längst nicht mehr nur deutsche Kinder mit biodeutschem Hintergrund und durchschnittlicher Lernbegabung. Die Klassen werden immer heterogener, weil Kinder mit Behinderungen und/oder Lernschwierigkeiten genauso an den Grundschulen unterrichtet werden wie migrierte Kinder, die zu Hause gar nicht Deutsch sprechen. Dass die "Schreiben nach Gehör"-Methode in ihrer reinen Art (also ohne Korrektur durch die Lehrkräfte) dann gar nicht funktionieren kann, ist den Lehrkräften vermutlich klar. Denn genau da dürfte der Grund liegen, weshalb die Methode in der Regel gar nicht rein, sondern in einer Mischform mit der Fibel-Methode angewandt wird. Ob das in der Politik auch so klar ist?

Mehr Kinder in Lerntherapiepraxen durch "Schreiben nach Gehör"?

Ein weiterer Vorwurf lautet, dass die genannte Methode einen Boom in den Lerntherapiepraxen nach sich ziehen würde. Die deutsche Rechtschreibung ist nicht einfach, denn nur etwa 7 % der Wörter werden lauttreu geschrieben. Daher führt "Schreiben nach Gehör" zu vielen Falschschreibungen. Prägen sich diese fehlerhaft geschriebenen Wörter ein, würde das eine Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) begünstigen, so der Vorwurf. Wer dies allerdings unterstellt, berücksichtigt nicht, was LRS eigentlich ist: Bei der Lese-Rechtschreibschwäche kommt es zu Fehlverarbeitungen zwischen den lautverarbeitenden und sprachverarbeitenden Bereichen im Gehirn, und insbesondere ähnliche beziehungsweise gespiegelte Buchstaben wie b und d, p und q sowie u und n werden durcheinandergeworfen. Kinder, die unter diesen Problemen leiden, benötigen eine besondere Förderung und sind auch mit der Fibel-Methode bislang immer in den entsprechenden Lerntherapiezentren vorstellig geworden.

Unbestritten ist indes, dass die Methode "Schreiben nach Gehör" für Kinder mit LRS, mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Familien nicht optimal ist und ohne besondere Aufmerksamkeit durch das Lehrpersonal nicht funktioniert. Aber ob Brandenburgs Schüler und Schülerinnen nach einem Verbot der "Schreiben nach Gehör" Methode in der nächsten Pisa-Studie in den Feldern Lesen und Schreiben besser abschneiden, ist abzuwarten. Die SPD-zugehörige Bildungsministerin Britta Ernst setzte das Verbot bereits im Herbst 2018 durch, in Baden-Württemberg und Hamburg wird die Methode schon länger nicht mehr genutzt. Der Lehrerverband fordert ein flächendeckendes Verbot der Methode.

 

Autor: M.B.W. für SCHULEN.DE